„Bürokratie ist kein weiches Thema“
16. Dezember 2025Dass die Bürokratie mittlerweile völlig aus dem Ruder gelaufen ist, könnte man auch als Binse bezeichnen. Kreatives Personal wird mit Pflichten gebunden, die vom Wertschöpfungsprozess abgekoppelt sind, es kostet Zeit, Geld, Kraft und Motivation, in Deutschland weiter zu investieren und zu agieren. Damit ist das Problemfeld zu einem bremsenden Standortfaktor geworden.
Die IHK zu Leipzig arbeitet hier seit Jahren daran, der Hydra Bürokratie Köpfe abzuschlagen. Deshalb gibt es auch den IHK-Bürokratiemelder. Was dieser kann und wie Unternehmen ihre Hürden melden können, erläutert Gerrit Sandmann.
WIRTSCHAFT ONLINE: Guten Tag, Gerrit Sandmann. Sie arbeiten für die IHK zu Leipzig im Bereich Wirtschaftspolitik und sind hier der Ansprechpartner für den IHK-Bürokratiemelder. Seit wann gibt es diese Möglichkeit?
Gerrit Sandmann: Seit Februar dieses Jahres (2025) gibt es bei der IHK zu Leipzig den Bürokratiemelder. Die Idee entstand, nachdem eine andere IHK mit einem solchen Instrument sehr gute Erfahrungen gemacht hatte. Dort zeigte sich, dass Unternehmen bereit sind, ganz konkrete bürokratische Hemmnisse zu melden, wenn der Weg dafür einfach und unkompliziert ist. Diese Möglichkeit wollten wir auch unseren Mitgliedsunternehmen bieten, um aus der Praxis heraus gezielt Probleme sichtbar zu machen und daraus Impulse für Verbesserungen zu gewinnen.
WIRTSCHAFT ONLINE: Für wen ist dieser Bürokratiealarm geschaltet worden? Wer kann sich hier hinwenden?
Gerrit Sandmann: Der Bürokratiemelder richtet sich an alle Unternehmen, die Mitglied der IHK zu Leipzig sind – vom kleinen Einzelhandels- oder Dienstleistungsbetrieb bis zum mittelständischen Industrieunternehmen. Auch Start-ups oder junge Gründende können ihn nutzen. Uns war wichtig, eine niedrigschwellige Möglichkeit zu schaffen, mit der Unternehmen unkompliziert und ohne viel Aufwand auf unnötige oder übermäßig belastende Bürokratie hinweisen können. Oft gibt es im Alltag viele kleine Hemmnisse, die in der Summe einen großen Aufwand verursachen. Genau diese wollen wir erfassen.
WIRTSCHAFT ONLINE: Bürokratie durchdringt das gesamte Leben mittlerweile. Die IHK zu Leipzig ist, wie Sie schon sagten, Ansprechpartnerin der Wirtschaftstreibenden. Was geschieht jedoch mit den Meldungen?
Gerrit Sandmann: Die Meldungen gehen direkt bei mir ein. Je nach Inhalt nehme ich mit dem Unternehmen Kontakt auf, um Rückfragen zu klären und den Sachverhalt möglichst genau zu verstehen – beispielsweise, um welche Vorschrift es geht, auf welcher Ebene sie erlassen wurde und welche Auswirkungen sie konkret im Betrieb verursacht. Oft liegen die Ursachen für bürokratische Belastungen auf Bundesebene. In diesen Fällen leiten wir die Meldungen an die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK) weiter, die sich auf Bundes- und EU-Ebene für die Belange der Wirtschaft einsetzt. Wenn Themen das Landesrecht betreffen, gehen sie an die zuständigen Referenten innerhalb der Landesarbeitsgemeinschaft. Bei Problemen, die kommunale Regelungen betreffen, würden wir den direkten Kontakt zu Stadträtinnen und Stadträten oder Verwaltungen suchen, um dort pragmatische und schlankere Lösungen anzustoßen. Wichtig ist uns, dass keine Meldung im Sande verläuft: Jede fließt in unsere politische Arbeit und Interessenvertretung ein.
WIRTSCHAFT ONLINE: Die Meldungen sind mannigfaltig. Wie sortieren Sie, wie fortgefahren wird?
Gerrit Sandmann: Zunächst erfolgt eine thematische Sortierung – also etwa nach Bereichen wie Steuern, Genehmigungsverfahren, Arbeitsschutz, Datenschutz, Meldepflichten, Umweltrecht oder Digitalisierung. Danach ordnen wir sie der jeweiligen politischen Ebene zu, auf der die Regelung entstanden ist: Kommune, Land, Bund oder EU. So können wir gezielt entscheiden, an welche Stellen wir die Meldungen weitergeben oder wo wir selbst aktiv werden. Wir prüfen auch, wie viele Unternehmen von einem Problem betroffen sind und wie hoch die Belastung ist. Je größer die Relevanz, desto höher priorisieren wir das Thema in unserer Arbeit. Manche Fälle eignen sich für kurzfristige Verbesserungen, andere erfordern längere politische Prozesse.
WIRTSCHAFT ONLINE: Adressat der Bürokratieentlastung ist der Gesetzgebende. Wie erfährt das politische Dresden, Berlin oder Brüssel von den gemeldeten Missständen?
Gerrit Sandmann: Die gemeldeten Fälle nutzen wir als konkrete Praxisbeispiele in unserer politischen Arbeit. Wir bringen sie in Stellungnahmen zu Gesetzesvorhaben ein, verwenden sie in Fachgremien, thematisieren sie in Gesprächen mit Ministerien oder Parlamentarierinnen und Parlamentariern und geben sie an die DIHK weiter. Diese wiederum vertritt die Interessen der Unternehmen auf Bundes- und EU-Ebene gegenüber Bundesregierung, Bundestag und EU-Kommission. Auch auf Landesebene spielen die Meldungen eine wichtige Rolle: Sie fließen in die Arbeit der Landesarbeitsgemeinschaft der IHKs ein, die wiederum mit dem Sächsischen Landtag oder den Ministerien im Austausch steht. Bei lokalen Problemen suchen wir den direkten Dialog mit Verwaltungen oder Stadträten, um dort praxisnahe Lösungen zu erreichen. Wichtig ist dabei: Die Entscheidungstragenden bekommen nicht nur abstrakte Zahlen, sondern konkrete Beispiele aus der Praxis – und das erhöht die Chance, dass tatsächlich etwas geändert wird. Natürlich braucht das Zeit, weil nicht jedes Thema sofort auf die Tagesordnung kommt. Es ist entscheidend, das richtige politische Fenster abzupassen, um die Themen erfolgreich zu platzieren.
WIRTSCHAFT ONLINE: Gibt es einen Verbund von Bürokratiemeldern? Bei Sachsen-Anhalt weiß ich, dass es gar einen Bürokratiemelder des Landes gibt …
Gerrit Sandmann: Es gibt bereits mehrere IHKs, die Bürokratiemelder betreiben – zum Beispiel die IHK Chemnitz oder die IHK Saarland. Mit der Kollegin aus Chemnitz stehe ich in regelmäßigem Austausch, wir tauschen Erfahrungen aus und besprechen, wie wir gemeinsam mehr Sichtbarkeit für das Thema schaffen können. Die IHK Dresden hat bislang noch keinen eigenen Bürokratiemelder, aber Unternehmen aus Dresden können sich gern an unseren oder an den Chemnitzer Melder wenden. Auf Landesebene gibt es in Sachsen noch keinen einheitlichen Bürokratiemelder, was aus unserer Sicht wünschenswert wäre. Denn wir hören von der Politik auf Landes- wie auf Kommunalebene immer wieder den Wunsch, Bürokratie zu reduzieren und Verfahren zu beschleunigen. Um das aber wirksam zu tun, braucht es konkrete Fälle aus der Praxis – und dafür brauchen wir die Unternehmen, die uns ihre Hürden melden. Nur so können wir diese gezielt an die richtigen Entscheidungsträger herantragen.
WIRTSCHAFT ONLINE: Welcher wirtschaftliche Schaden entsteht denn jährlich in Deutschland durch die Bürokratie?
Gerrit Sandmann: Laut einer Studie des ifo-Instituts beläuft sich der Schaden durch überbordende Bürokratie in Deutschland auf bis zu 146 Milliarden Euro pro Jahr. Die direkten Kosten für Unternehmen – also der konkrete Aufwand durch Melde-, Nachweis- und Dokumentationspflichten – werden auf rund 65 Milliarden Euro jährlich geschätzt. Das sind Ressourcen, die in den Betrieben gebunden werden, ohne dass sie zur Wertschöpfung beitragen. Dazu kommt ein enormer indirekter Schaden, weil Bürokratie Investitionen hemmt und Innovationen bremst. Laut ifo-Studie könnte die Wirtschaftsleistung um fast 100 Milliarden Euro pro Jahr steigen, wenn die Verwaltung in Deutschland so digital und effizient arbeiten würde wie in Dänemark. In Umfragen der Deutschen Industrie- und Handelskammer geben viele Unternehmen an, dass sie inzwischen bis zu einem Fünftel ihrer Arbeitszeit für bürokratische Aufgaben aufwenden müssen. Das bindet Personal, verlangsamt Prozesse und verhindert, dass diese Fachkräfte dort arbeiten, wo echte Wertschöpfung entsteht. Der Nationale Normenkontrollrat fordert deshalb, den Erfüllungsaufwand in Deutschland in den kommenden Jahren, um mindestens 25 Prozent zu senken. All diese Zahlen zeigen: Bürokratie ist kein „weiches Thema“, sondern ein realer Standortfaktor, der darüber entscheidet, ob Unternehmen wachsen und investieren oder ob sie stagnieren. Gerade bei den KMUs bleibt die Bürokratie oft am Unternehmer oder der Unternehmerin selbst hängen. Das senkt maßgeblich die Lust auf Unternehmertum und hemmt Innovation und die Weiterentwicklung des Unternehmens.
Deshalb mein Appell an die Unternehmen in der Region: Nutzen Sie unseren Bürokratiemelder, melden Sie uns Ihre Hürden, und unterstützen Sie uns so bei unserer Arbeit. Wir setzen uns dafür ein, dass unternehmerisches Handeln einfacher, schneller und gleichzeitig rechtssicher wird – auch wenn nicht jedes Problem von heute auf morgen gelöst werden kann. Wir arbeiten jeden Tag daran, die Rahmenbedingungen für die Wirtschaft in Sachsen spürbar zu verbessern.
WIRTSCHAFT ONLINE: Danke, Herr Sandmann, dass Sie sich Zeit für unsere Fragen genommen haben und danke für Ihr Engagement.
Ihr Ansprechpartner zum Thema Bürokratiemelder:
Gerrit Sandmann
E-Mail: gerrit.sandmann@ihk.leipzig.de
Bei Fragen hilft Ihnen die Redaktion der WIRTSCHAFT ONLINE gerne weiter.