Warum Bürokratie unsere Wirtschaft lähmt
17. November 2025Deutschland ist stolz auf seine Ordnung – doch genau diese Detailverliebtheit macht uns inzwischen träge. Im Interview spricht Dr. Gert Ziener, Geschäftsführer Grundsatzfragen der IHK zu Leipzig, über die Folgen für Unternehmen, über „Gold-Plating“ – und darüber, wie wir Verwaltung wieder pragmatischer angehen können.
WIRTSCHAFT ONLINE: Guten Tag, Herr Dr. Ziener. Sie sagen, Bürokratie sei nicht per se schlecht. Wo liegt dann das Problem?
Dr. Gert Ziener: Eine Gesellschaft braucht Regeln, sonst funktioniert das Zusammenleben nicht. Das eigentliche Problem in Deutschland ist aber die Detailversessenheit. Wir haben die Tradition, alles bis ins Kleinste regeln zu wollen – und zwar oft doppelt oder widersprüchlich. So gibt es beispielsweise das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene. Am Ende stehen Unternehmen vor einem Berg von Auflagen, die sich überschneiden, widersprechen und sie schlichtweg lähmen. Hinzu kommt das berühmte „Behörden-Pingpong“, wenn mehrere Institutionen zuständig sind und sich gegenseitig die Verantwortung zuschieben.
WIRTSCHAFT ONLINE: Können Sie ein Beispiel nennen, wie sich das in der Praxis auswirkt?
Dr. Gert Ziener: Im Leipziger Neuseenland würden Unternehmer gerne den Wassertourismus und Sportler den Wassersport weiter voranbringen. Für den Standort eigentlich eine gute Sache. Doch es gibt seit Jahren keine abschließende Schiffbarkeitserklärung. Genehmigungen müssen jedes Jahr neu beantragt werden. Meist sind mehrere Behörden an den Verfahren beteiligt, was alles noch komplizierter macht. Solche Verfahren dauern Jahre und entmutigen Investoren. Unternehmen verlieren dadurch Zeit, Lust, Geld und Planungssicherheit.
WIRTSCHAFT ONLINE: Wieso ist die Bürokratielast in Deutschland besonders hoch?
Dr. Gert Ziener: Ein Grund ist das sogenannte Gold-Plating: Wir neigen dazu, EU-Vorgaben nicht nur eins zu eins umzusetzen, sondern zu übererfüllen. Hinzu kommt unsere deutsche Akribie – mehr als 500 neue Gesetze hat der Bundestag in der vergangenen Legislaturperiode beschlossen. Das schafft eine Detaildichte, die kaum noch jemand überblicken kann. Eigentlich gilt in einer Marktwirtschaft: Der Wettbewerb bringt oft die besten Lösungen hervor. Doch hierzulande greift das Ordnungsrecht oft auch dann ein, wenn der Markt gut funktioniert. Das ist Überregulierung – und sie schwächt Vertrauen und Eigeninitiative.
WIRTSCHAFT ONLINE: Ist Bürokratie also ein rein deutsches Problem?
Dr. Gert Ziener: Nein. Die EU produziert selbst viele Auflagen. Gerade in den Bereichen Klima und Umwelt ist dies in der Sache oft wichtig, aber die Vorgaben sind häufig zu streng und nur mit sehr großem Aufwand zu erfüllen. Die europäische Überregulierung geht zulasten der Grundfreiheiten des Binnenmarktes – also genau jener Prinzipien, die Europa groß und stark gemacht haben. Die EU hat das erkannt und rudert inzwischen teilweise zurück, etwa mit den sogenannten Omnibusverfahren, die Entlastung bringen sollen.
WIRTSCHAFT ONLINE: Welche Rolle spielen Behörden und Verwaltung selbst?
Dr. Gert Ziener: Eine große Rolle. In den 90er-Jahren gab es in den Behörden mehr Ermessensspielräume; Entscheidungen wurden pragmatischer getroffen. Heute überwiegt das „Absichern“ – lieber noch ein Passus, noch ein Formular, noch ein Gutachten. Die Folge sind langwierige, lähmende Verfahren. Dabei hängt viel von den Menschen ab: Führungskräfte in den Verwaltungen, aber auch die Ausbildung an den Verwaltungshochschulen. Dort müsste ein Geist vermittelt werden, Gesetze so zu gestalten und anzuwenden, dass sie unternehmerisches Handeln erleichtern und Investitionen ermöglichen – nicht verhindern. Wir brauchen mehr Mut, mehr Freiheitsgrade und einen echten Kulturwandel in den Amtsstuben.
WIRTSCHAFT ONLINE: Wie stellt sich die Lage speziell in Sachsen dar?
Dr. Gert Ziener: Sachsen hat keine Sonderrolle – die Bürokratieprobleme sind bundesweit ähnlich. Aber es gibt regionale Unterschiede, wie es unsere jüngste Standortzufriedenheitsstudie verdeutlicht. Manche Kommunen arbeiten zügig, andere sind extrem schwerfällig. Gerade kleinere Unternehmen berichten von endlosen Bearbeitungszeiten; sie leiden unter den hohen Auflagen. Oft entscheidet die Haltung vor Ort: Gibt es Führung, die pragmatisch denkt? Dass es funktioniert, zeigt sich immer dann, wenn Großinvestoren an die Tür klopfen. Siehe aktuell Dresden, wo die Chipfabrik TSMC vergleichsweise schnell errichtet werden kann. Das zeigt, dass Schnelligkeit und Vereinfachung grundsätzlich möglich sind – aber nur, wenn Verwaltung und Politik es wirklich wollen.
WIRTSCHAFT ONLINE: Was erleben Unternehmen auf der kommunalen Ebene besonders stark?
Dr. Gert Ziener: Während es bei großen Investoren oft zügig und reibungslos läuft, dauert es für den einfachen Mittelständler oft länger – dabei machen kleine und mittlere Unternehmen über 90 Prozent unserer Wirtschaft aus. Auf Anstoß der IHK zu Leipzig wurde 2016 vom Stadtrat die Initiative „Mittelstandsorientierte Kommunalverwaltung“ beschlossen, um Prozesse zu digitalisieren, Mitarbeiter zu qualifizieren und pragmatische Entscheidungen zu ermöglichen. Leider wurde das Programm im Rathaus nicht durchweg umgesetzt und konsequent weitergeführt. Aus unserer Sicht ist es daher höchste Zeit, das Projekt wieder aufzugreifen.
WIRTSCHAFT ONLINE: Ein halbes Jahr nach Veröffentlichung des Deutschlandplans: Wie bewerten Sie die jüngsten Vorstöße von Bund und Land beim Bürokratieabbau – und was fordern Sie jetzt von der Politik?
Dr. Gert Ziener: Es ist zu begrüßen, dass sowohl der Bund als auch Sachsen das Thema Bürokratieabbau anpacken. Aber ehrlich gesagt: Gremien, die sich damit befasst haben, gab es schon viele; zu oft blieb es jedoch bei Ankündigungen und Vorschläge wurden eben nicht umgesetzt. Entscheidend ist, dass messbare Ergebnisse jetzt schnell kommen. Gold-Plating bei EU-Vorgaben soll künftig unterbleiben – das ist gut, aber auch nur das Minimum. Wir brauchen vor allem weniger neue Gesetze und die Entrümpelung überflüssiger Regelungen. Sachsen geht mit der Überprüfung von Schriftformerfordernissen und Praxistauglichkeitschecks einen Schritt in die richtige Richtung. Nur darf das nicht in neuem Aufwand enden.
Statt weitere Behörden aufzubauen, müssen Verfahren gebündelt, digitalisiert und beschleunigt werden. One-Stop-Shops für Genehmigungen wären ein echter Fortschritt. Hinzu kommt: In den nächsten Jahren geht ein Drittel der Beamten und Verwaltungsbediensteten in den Ruhestand – das eröffnet die Chance, Verwaltung gezielt zu verschlanken und Prozesse mit Digitalisierung und KI neu aufzustellen.
Unser Fazit: Weniger Komplexität, mehr Pragmatismus. Nur so schaffen wir die Freiräume, die Unternehmen für Investitionen, Innovation und sichere Arbeitsplätze brauchen. Dafür bleibt die IHK Leipzig mit dem Deutschlandplan hartnäckig am Ball.
Mehr konkrete Lösungsansätze der IHK zu Leipzig finden sich im Grundsatzpapier Unser Plan für Deutschland – Was bis 2030 angepackt werden muss: www.wirtschaftnachvorn.de
Deutsche Bürokratie in Zahlen
| durchschnittlich 7 % der Arbeitszeit der Beschäftigten | …der Arbeitszeitmenge … entfielen 2024 im Mittelstand auf bürokratische Prozesse.* |
rund 61 Mrd. € Personalkosten | Diese finanzielle Last trägt der Mittelstand jährlich allein für seinen Bürokratieaufwand – das sind etwa 3,9 % seiner Personalausgaben.* |
Steuerangelegenheiten, Aufbewahrungs- und Dokumentationspflichten, Rechnungswesen, Statistische Auskunfts- und Meldepflichten, Anforderungen der Sozialversicherungsträger | Dies sind die fünf Bereiche mit dem höchsten Erfüllungsaufwand im Mittelstand.* |
bis zu 146 Mrd. € Verlust an Wirtschaftsleistung | Diese Summe geht Deutschland jährlich durch überbordende Bürokratie verloren.** |
+ 14.761 DIN-A4-Normseiten Gesetzesvolumen | In den vergangenen 15 Jahren ist das Gesetzesvolumen in Deutschland um etwa 60 % angewachsen: von rund 24.775 Seiten im Jahr 2010 auf 39.536 Seiten Anfang 2025.*** |
„Starting a Business“: Platz 125 von 190 Ländern | Beim internationalen Ranking in der Kategorie „Starting a Business“, die den Aufwand für Unternehmen bei Neugründungen misst, liegt Deutschland abgeschlagen im hinteren Drittel.**** |
Quellen
* KfW-Mittelstandspanel 2025.
** ifo-Studie: Entgangene Wirtschaftsleistung durch hohen Bürokratieaufwand, 2024.
*** Bürokratie-Index (ESMT Berlin/Buzer.de), 2025.
**** Economy-Profile der World Bank – Doing Business 2020.
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