
Unternehmerische Freiheit und gesellschaftliche Verantwortung bedingen einander.
17. Juli 2025Krisen als Chancen zur Veränderung zu begreifen, ist nachweislich unternehmerisches Handeln. Wir sprachen mit der Politikwissenschaftlerin und Analystin Dr. Isabella Hermann über anti-dystopische Narrative, eine Zukunft ohne Angst und die Möglichkeiten, die gerade für die Wirtschaft aus diesem Gedankengebäude erwachsen.
Dabei kam ganz besonders detailliert die Zukunft der unternehmerischen Freiheit in einer sich rasant verändernden Welt zur Sprache.
WIRTSCHAFT ONLINE: Guten Tag, Isabella Hermann. Ihr neues Buch „Zukunft ohne Angst. Wie Anti-Dystopien neue Perspektiven eröffnen“, erschienen bei oekom, ist ein intellektueller Genuss. Hierin plädieren Sie für ein Verlassen des geistigen Gefängnisses aus Schwarz-Weiß-Dogmen, der philosophischen Begrenzung auf „Alles ist gut“ oder „Alles ist eine Katastrophe“. Bei all den gerade auch politisch gewollten Untergangsnarrativen, aus denen sich angstbesetztes Untertanentum generieren lässt: Welchen Vorschlag beinhaltet Ihr Konzept der Anti-Dystopie?
Dr. Isabella Hermann: Wir sind aktuell von dystopischen Geschichten umgeben. Die Dystopie ist eigentlich ein literarisches beziehungsweise popkulturelles Genre, das eine Welt zumeist in der Zukunft zeigt, die von negativen gesellschaftlichen Entwicklungen wie Machtmissbrauch, Unterdrückung, Überwachung und prinzipiell von Unmenschlichkeit geprägt ist. Dystopien beziehen sich dabei auf aktuelle Ängste in der Gesellschaft und übertragen diese ins Extrem einer negativen Zukunft. Und diese Ängste gibt es aktuell zuhauf: Rückgang der Demokratie, steigende globale Ungleichheit, digitale Spaltung, rasanter technischer Fortschritt, globale Gesundheitskrisen, neue Kriege und über allem die Klimaerwärmung. Dystopische Geschichten sollten dabei eigentlich als Weckruf dienen, doch aktuell scheinen sie die aufrüttelnde Funktion verloren zu haben und stattdessen einen unvermeidlichen Niedergang zu bestätigen. Die Dystopie ist also in der Gegenwart angekommen.
Jetzt können wir uns fragen, ob wir nicht mehr utopische Geschichten bräuchten, um der Hoffnungslosigkeit und dem Pessimismus etwas entgegenzusetzen. Doch klassische Utopien als Erzählung von perfekten Gesellschaften wirken aus der Zeit gefallen. Genau an der Stelle zeichnet sich ein neuer Trend in der Science-Fiction ab: Geschichten, in denen Menschen sich erfolgreich gegen dystopische Verhältnisse zur Wehr setzen, die Welt aber dennoch komplex, widersprüchlich und unperfekt bleibt. Diese Erzählungen legen den Fokus auf Solidarität, Gerechtigkeit und das gemeinsame Streben nach einer besseren Zukunft trotz aller Widerstände. Romane wie Kim Stanley Robinsons „Das Ministerium für die Zukunft“ (2020), Emily St. John Mandels „Station Eleven“ (2015), Nnedi Okorafors „Lagoon“ (2014) oder Aiki Miras „Proxi“ (2024) zeigen, dass Veränderung auch in katastrophalen Zuständen möglich ist und es sich lohnt, für eine lebenswerte Welt zu kämpfen.
Diese anti-dystopischen Geschichten bilden nicht nur ein neues Genre, das ein Bedürfnis nach Veränderung in der Gesellschaft ausdrückt, sie können auch ein kraftvolles gesellschaftliches Narrativ sein, um in der Krise Inspiration und Motivation zum Handeln zu finden.
WIRTSCHAFT ONLINE: Wirtschaftstreibende fragen sich natürlich, was dies für ihre Arbeit zur Folge hat. Welche ökonomische Welt schwebt Ihnen vor? Viele Kapitalismuskritikerinnen und -kritiker kritisieren zwar, legen aber kein Alternativkonzept vor, welches das grundgesetzlich verbriefte Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit beinhaltet. Gerade dieses Recht beinhaltet ebenfalls, dass es unternehmerische Freiheit geben muss …
Dr. Isabella Hermann: Im Gegensatz zur Utopie wird in Anti-Dystopien ja nicht die eine perfekte Lösung propagiert, sondern gerade eine Vielfalt von Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit betont – genau das ist unternehmerische Freiheit. Kapitalistisches Wirtschaften oder Wirtschaften überhaupt ist zu kritisieren, wenn es Menschen ausbeutet und die natürlichen Lebensgrundlagen zerstört. Hier macht der Autor und Tech-Aktivist Cory Doctorow in seinem Science-Fiction-Roman „Walkaway“ (2017) einen spannenden Entwurf auf. Dieser spielt in einer näheren Zukunft, in der einige Menschen eine unfaire, von wenigen Superreichen beherrschte Welt verlassen, in der es keine unternehmerische und sonstige Freiheit mehr gibt, und bauen in der Einöde eine neue Gemeinschaft auf. Sie setzen moderne Technologien nicht zur Unterdrückung ein, sondern für eine gerechtere, selbstbestimmte und nachhaltige Lebensweise. Mithilfe von Open-Source-Technologien und hoch entwickelten 3D-Druckern schaffen sie eine komplette Kreislaufwirtschaft – eine Kreislaufgesellschaft eigentlich –, die auf Wiederverwendbarkeit, Reparatur und Teilen basiert. Das Buch ist auch ein Vertreter des Solarpunk-Genres, in dem technische und soziale Innovationen immer zusammen gedacht werden.
Ein Sachbuch, das auch wunderbar in das anti-dystopische Narrativ der Vielfalt passt, ist „Die Faltung der Welt“ (2023) des Physikers und Klimaforschers Anders Levermann. Darin plädiert er dafür, exponentiell wachsende schädliche Systeme zu regulieren, innerhalb der regulativen Grenzen jedoch unternehmerische Freiheit zuzulassen. So könnte der CO₂-Ausstoß bis zu einem bestimmten Zeitpunkt verboten werden, doch mit welchen Maßnahmen und Technologien das erreicht wird, sollte komplett offengelassen werden. So würden sich durch die unbeschränkte Faltung innerhalb der Limitierung zahlreiche neue Ideen entwickeln können. Vor allem hat mich hier sein gänzlich unideologisches und pragmatisches Vorgehen überzeugt. Anti-dystopisch ist es, wenn Menschen ihre kreativen Ideen umsetzen können.
WIRTSCHAFT ONLINE: Die Transformation der Wirtschaft ist, da sind sich viele Menschen einig, dringend notwendig. Nun braucht es dafür aber auch eine innere, möglichst positive Einstellung zum Handeln. Wie kann wieder Zuversicht etabliert werden? Wie bekommen wir die Köpfe weg von der Fokussierung auf „Desaster-Porn“?
Dr. Isabella Hermann: Das ist eine Frage der Haltung, für die genau ein anti-dystopisches Narrativ das Futter liefert. Mein Zugang sind Science-Fiction-Geschichten, die uns lehren, in Alternativen zu denken und neue Handlungsmöglichkeit auszuloten. Es können aber auch Sachbücher sein wie das bereits erwähnte von Anders Levermann. Es können auch reale Geschichten aus unserem Umfeld von Menschen sein, die sich für Gerechtigkeit, Solidargemeinschaften, ein faires Wirtschaften einsetzen. Wichtig ist, dass wir uns darüber erzählen und einen positiven Spirit kreieren, dass Veränderung möglich ist, auch wenn die Welt unsicher und komplex ist.
WIRTSCHAFT ONLINE: Ist KI hier Chance oder Gefahr?
Dr. Isabella Hermann: Entscheidend ist, wie Künstliche Intelligenz im Unternehmen eingesetzt wird. Dient sie als Werkzeug, das Mitarbeitende und Kundinnen sowie Kunden entlastet, repetitive Aufgaben übernimmt und Raum für kreative sowie anspruchsvolle Tätigkeiten schafft? Oder wird sie zur Instanz, die unseren Handlungsspielraum einschränkt und die Selbstbestimmung untergräbt? Dabei spielt auch das Menschenbild der Unternehmensführung eine zentrale Rolle: Vertraue ich meinen Mitarbeitenden und sehe sie als aktive Gestaltende des Wandels – oder als bloße Erfüllungsgehilfen im Schatten der Technologie? Letztlich liegt es an uns, wie wir KI gestalten und integrieren.
Gleichzeitig dürfen wir zentrale Fragen nicht ausblenden: Europas starke Abhängigkeit von KI-Systemen aus den USA rückt unter der neuen Trump-Regierung die Diskussion um digitale Souveränität erneut in den Fokus. Auch die ökologischen Auswirkungen sind nicht zu unterschätzen: Der Betrieb riesiger Rechenzentren verbraucht enorme Mengen an Energie und natürlichen Ressourcen. Während in vielen Wirtschaftsbereichen Nachhaltigkeit zunehmend zur Pflicht wird, zeichnet sich hier ein gegenteiliger Trend ab.
WIRTSCHAFT ONLINE: Wirtschaftstreibende sind abhängig von den politischen Verhältnissen im Land. Unruhige Zeiten verursachen auch Unruhe beim Wirtschaften. Jedoch ist es für viele politische Kräfte von Vorteil, gerade um ihre Wählerschichten zu binden, eine permanente Unruhe zu erzeugen. In Ihrem Buch beschreiben Sie im Kapitel „Anti-dystopisches Handeln ist ermächtigend“, wie Menschen in die Selbstermächtigung kommen können, ein Thema, welches Selbstständige jeden Tag vor sich haben. Nun ist der Tag vieler Unternehmerinnen und Unternehmer sowie Selbstständiger (besonders bei KMU) wirklich vollgepackt, die Bürokratie tut ihr Übriges … Wie kann wieder ein beruhigtes Gemeinwesen erschaffen werden, welches Wirtschaftstreibenden trotzdem Möglichkeiten zum Wirtschaften lässt?
Dr. Isabella Hermann: Ein beruhigtes Gemeinwesen bedeutet nicht die Abwesenheit von Krisen, sondern die Fähigkeit, mit Komplexität souverän umzugehen. Anti-dystopisches Handeln setzt genau hier an: Es geht darum, trotz Unsicherheit handlungsfähig zu bleiben – durch solidarisches, selbstbestimmtes Tun. Gerade Unternehmen im Mittelstand brauchen dafür Raum und Vertrauen. Statt sich von düsteren Zukunftsszenarien lähmen zu lassen, braucht es eben neue Erzählungen: Geschichten, die zeigen, dass Wandel möglich ist – durch Kooperation, Kreativität und Verantwortungsbewusstsein. Unternehmerische Freiheit und gesellschaftliche Verantwortung schließen sich dabei nicht aus, sondern bedingen einander. Was es dafür braucht? Verlässliche politische Rahmenbedingungen, sicher auch eine effizientere Bürokratie, eine neue Vorstellung von Zukunft – und unternehmerische Räume, in denen Fehler erlaubt und Innovationen erwünscht sind. So wird Wirtschaft zur Mitgestalterin einer besseren Zukunft, und dies nicht trotz, sondern wegen der Herausforderungen unserer Zeit.
WIRTSCHAFT ONLINE: Ihr Buch hat zuvorderst die Literatur im Blick, macht Vorschläge, eine Literatur mit neuen Narrativen, mit neuen Perspektiven zu erschaffen, was sich rein philosophisch natürlicherweise auf die ganze Gesellschaft, die Stimmung der Menschen, die Konfliktlösungsansätze usw. auswirkt. Wie ist die Resonanz auf Ihr Buch außerhalb des Literaturbetriebs?
Dr. Isabella Hermann: Tatsächlich fanden die meisten Veranstaltungen bislang außerhalb des traditionellen Literaturbetriebs statt. Das war auch bewusst so gedacht – ich habe das Buch für ein breites, interessiertes Publikum geschrieben: für Science-Fiction-Fans, Zukunftsforschende, aber auch für Menschen, die sich für Popkultur, gesellschaftliche Alternativen und Zukunftsgestaltung interessieren. Das Feedback war bisher, dass sich die Leute durch ein anti-dystopisches Narrativ wirklich angesprochen fühlen und sich für ihr eigenes Handeln gegen Krisen, schwierige Zustände und starre Strukturen innerhalb eines anti-dystopischen Narrativs nicht nur selbst empowered, sondern auch mit anderen Menschen verbunden fühlen. Kürzlich war ich mit dem Thema auf der Re:publica in Berlin zu Gast und werde beispielsweise auch beim Silbersalz-Festival Anfang November in Halle (Saale) auftreten. Es gibt auf allen Seiten einen Bedarf nach einer anti-dystopischen Haltung.
WIRTSCHAFT ONLINE: Danke, Frau Dr. Hermann, für Ihre Zeit, Ihre Ideen und Ihr Engagement.
Bei Fragen hilft Ihnen die Redaktion der WIRTSCHAFT ONLINE gerne weiter.