Porträtfoto von Robert Hentschel | © IHK zu Leipzig
Robert Hentschel, Abteilungsleiter Mitgliederbetreuung

KI: Die Veränderungen sind nicht abstrakt oder irgendwann. Sie sind jetzt.

24. Juli 2025

Im Diskurs zum Thema KI gibt es scheinbar nur zwei Positionen: Euphorie und Angst. Hier ist jedoch eine differenziertere Sicht angeraten, auch um strategisch mit Realitäten umzugehen. Wir sprachen mit Robert Hentschel, der bei der IHK zu Leipzig federführend das Thema bearbeitet.

Dabei wurden Fragen zur Veränderung auf dem Arbeitsmarkt sowie zur Neujustierung des Wirtschaftslebens, zu dringend nötigem Mut, sich einzubringen, und zu Reaktionen auf den Verlust von Gewohnheiten angesprochen.

WIRTSCHAFT ONLINE: Guten Tag, Herr Hentschel. Sie sind in der IHK zu Leipzig Abteilungsleiter Mitgliederbetreuung sowie hier im Haus federführend im Themenbereich AI / KI aktiv. Dieser Themenbereich wird im Wirtschaftsleben der nächsten Jahre für elementare Änderungen sorgen. Hier ist es wichtig, sich mit Realitäten auseinanderzusetzen und den Mut zu haben, daraus Schlüsse für das eigene Unternehmen zu ziehen. Wie schauen Sie in Sachen KI in die Zukunft? Hoffnungsvoll? Skeptisch? Wertfrei? Differenziert?

Robert Hentschel:Ich blicke differenziert und realistisch in die Zukunft der Künstlichen Intelligenz. Der KI-getriebene Wandel ist nicht auf das Wirtschaftsleben zu begrenzen, denn am Ende ist er ein zutiefst sozialer. Wir werden mit ihr in einer anderen Welt leben – technologisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich. Alle, wirklich alle Lebensbereiche verändern sich. KI wird mehr und mehr wirtschaftliche Werte schaffen und damit den bekannten Verteilungsmechanismus komplett verändern weg von Erwerbsarbeit als einzigen Wertmaßstab hin zu einem neuen Gesellschaftsvertrag.

WIRTSCHAFT ONLINE: Noch einmal nachgefragt: Also sehen Sie einen sehr großen Einfluss auf das gesamte Leben?

Robert Hentschel: Ja, absolut. Wirtschaftsleben und soziales Leben beeinflussen sich immer gegenseitig. Ein besonders sensibler Aspekt im Wandel durch KI ist der drohende Verlust der Sinnhaftigkeit von Arbeit. Viele Tätigkeiten, die heute Identität, Sicherheit und Struktur geben, werden einfach automatisiert. Das bedeutet aus meiner Sicht: Die „gewohnte“ Arbeit wird in Zukunft wahrscheinlich nicht mehr der zentrale Werttreiber für unser Leben sein. Wir werden uns nicht mehr nur über unsere Arbeit definieren – definieren können. Wenn wir diesen Wandel nicht bewusst gestalten, laufen wir Gefahr, Menschen ihre berufliche Heimat zu nehmen, ohne ihnen neue Perspektiven zu bieten.

Im Übrigen nehme ich mich und meine Rolle dabei nicht aus!

WIRTSCHAFT ONLINE: Warum? Da Sie sich intensiver als viele andere Menschen mit dem Thema KI befassen: Was lässt Sie so auf die Veränderungen schauen?

Robert Hentschel:Die Gründe sind hier ganz konkret die Dynamik der Entwicklungen und das gefühlt grenzenlose Potenzial der Technologie. Was mich immer wieder erstaunt, ist, wie viele Menschen die Tragweite der Veränderung durch KI noch nicht glauben wollen.

Meine Realität ist: Viele Menschen gehen heute noch täglich zur Arbeit – aber die Jobs, so wie wir sie kennen, gibt es im Grunde schon nicht mehr. Die Prozesse sind längst automatisierbar, die Aufgaben austauschbar, die Notwendigkeit dieser Rollen im Prinzip abgeschafft. Doch noch läuft das System: aus Gewohnheit, aus Trägheit, vielleicht auch aus Angst vor dem, was danach kommt. Wir sind in einem der komplexesten Veränderungsprozesse, tun aber so, als könnten wir einfach weitermachen.

Wer sich intensiv mit KI beschäftigt, sieht: Die Veränderungen sind nicht abstrakt oder irgendwann – sie sind jetzt. Wir müssen aufhören, uns selbst zu beruhigen, und anfangen, neue Realitäten zu gestalten. Für mich persönlich ist das kein düsteres Szenario – aber ein sehr lautes Wecksignal.

WIRTSCHAFT ONLINE: Was muss jetzt ganz dringend von den Unternehmen angefasst werden? Welche Entscheidungen müssen getroffen werden?

Robert Hentschel: Wie so oft müssen Unternehmen mutig sein und die Veränderungen annehmen. Aber diesmal geht es um mehr als nur um Digitalisierung oder Automatisierung. Künstliche Intelligenz verändert Wertschöpfung, Kundenbeziehungen, Entscheidungsprozesse und ganze Geschäftsmodelle fundamental. Die Frage, ob sich ein Unternehmen der KI öffnet, stellt sich schlicht nicht mehr. Es ist keine Option, es ist eine Notwendigkeit.

Ergänzen möchte ich dazu:

Erstens: Qualifikation und Kulturwandel. Mitarbeitende brauchen Orientierung und Kompetenzen, um mit KI produktiv und reflektiert arbeiten zu können. Das erfordert massive Investitionen in Weiterbildung, aber auch in eine offene Fehlerkultur, die Lernen überhaupt erst möglich macht.

Zweitens: Datenstrategie und Technologiekompetenz. Wer keine klaren Prozesse zur Datenanalyse und -ethik etabliert, verliert die Kontrolle über die eigenen Geschäftsgrundlagen – oder gibt sie an Plattformanbieter ab. Unternehmen brauchen eine KI-Strategie, die sich nicht nur um Tools, sondern um Datenqualität, Transparenz und Nachhaltigkeit dreht.

Drittens: Mut zu disruptivem Denken. Die Frage ist nicht nur: Wie können wir KI integrieren? Sondern: Wenn unser Geschäftsmodell heute neu erfunden würde, wie sähe es mit KI von Beginn an aus? Wer diese Frage nicht stellt, wird von Start-ups oder Tech-Konzernen überholt, die genau das tun.

WIRTSCHAFT ONLINE: KI ist ein weltumspannendes Thema, trotzdem sind die Lösungsansätze völlig unterschiedlich, beispielsweise in Europa, den USA, der VR China, den afrikanischen Staaten oder den Arabischen Emiraten. In welche Richtung fährt das große KI-Schlachtschiff in Europa und wird es im weltweiten Vergleich funktionieren, diese Richtung beizubehalten?

Robert Hentschel: Die Frage ist sehr komplex und vielschichtig. Ich versuche, kurz zu antworten: Europa verschließt sich – nicht grundsätzlich, aber zu oft - reflexhaft. Statt Innovationslust dominiert bei uns häufig Risikovermeidung. Während andere Länder KI als strategische Schlüsseltechnologie begreifen und massiv in Entwicklung, Infrastruktur und Talente investieren, verlieren wir uns zu oft in regulatorischer Detailverliebtheit und ethischer Selbstblockade.

Europa ist heute in vielen Bereichen der KI-Anwendungen abhängig oder noch abhängig: von der Cloud-Infrastruktur über Basismodelle bis hin zu den Schnittstellen, auf denen unsere eigenen Produkte aufbauen. Diese Abhängigkeit ist wirtschaftlich gefährlich und politisch brisant. Wenn wir zentrale Technologien nicht selbst kontrollieren oder mitgestalten, geben wir Einfluss ab. Deshalb geht es beim Aufbau eigener KI-Kapazitäten in Europa nicht um Protektionismus, sondern um digitale Souveränität und Resilienz.

WIRTSCHAFT ONLINE: Junge Start-ups, die in der Regel ohne großen Mitarbeitenden-Park auskommen, werden viele Angebote, da nur noch mit KI gearbeitet wird, viel kostengünstiger machen können. Althergebrachte Unternehmen haben hier einen Wettbewerbsnachteil, vom internationalen Wettbewerb ganz zu schweigen. Welche Möglichkeiten haben etablierte Player hier?

Robert Hentschel: Der Eindruck, dass Start-ups grundsätzlich KI-nativer sind, ist weit verbreitet, aber er greift zu kurz. Viele Start-ups nutzen KI zwar frühzeitig, aber oft nur als Tool, nicht als tief integrierte Strategie. Umgekehrt investieren etablierte Unternehmen inzwischen gezielter, langfristiger und substanzieller in KI, weil sie die Ressourcen, die Daten und die nötige Infrastruktur mitbringen. Meine Empfehlung ist, die KI zu einem Business Case für das eigene Unternehmen zu entwickeln. Dabei kann die KI im Sinne eines Mitarbeitenden gedacht werden, einer Stabsstelle oder eigenen Einheit, die Wirkung auf die Leistungserbringung des Unternehmens hat und mich in Entscheidungsprozessen oder Arbeitsabläufen unterstützt.

Auch hier möchte ich gern ergänzen:

Strukturen entschlacken: KI entfaltet ihren Wert nicht in starren Hierarchien. Wer sie einführen will, muss interne Entscheidungsprozesse agiler machen. Sonst erstickt Innovation in Bürokratie.

Kompetenzen aufbauen – intern und extern: Die besten Tools nützen nichts, wenn niemand sie richtig nutzt. Unternehmen müssen massiv in Weiterbildungen investieren und gezielt KI-Talente anziehen – oder Kooperationen mit spezialisierten Partnern eingehen.

Innovationsräume schaffen: Wer KI nur zur Effizienzsteigerung im Bestand nutzt, verpasst das Potenzial. Es braucht interne Start-up-Logik – sei es durch Ausgründungen, Labs oder die bewusste Förderung von experimentellen Projekten, auch mit Risiko.

WIRTSCHAFT ONLINE: Wenn man Ihre Antworten zu Ende denkt, steht ein ganzes System auf dem Prüfstand. Es braucht Mut, sich hier mit der realen, nicht mit der erwünschten, Welt auseinanderzusetzen. Sehen Sie den Mut irgendwo? Im öffentlichen Diskurs wird diese technologische Revolution, welche zu einer gesellschaftlichen Revolution werden kann, ja kaum ernsthaft ausargumentiert. Oder sehe ich das zu schwarz?

Robert Hentschel: Ich sehe ein klares Delta zwischen der politischen Forderung, dass wir mehr arbeiten sollen, und der technologischen Realität, die genau das Gegenteil möglich macht. Dies gilt sicherlich nicht für alle Branchen. Wir führen zwei völlig getrennte Debatten. Die eine sagt: „Die Leute sollen länger arbeiten.“ Die andere zeigt: „Wir brauchen gar nicht mehr so viele klassische Jobs, zumindest nicht in der bisherigen Form.“ Zwischen diesen beiden Welten fehlt die Brücke. Und die kann nur entstehen, wenn wir Arbeit neu definieren: nicht nur als Erwerbsarbeit, sondern als sinnvolle Beteiligung am Gemeinwohl, an Bildung, Fürsorge, Kreativität.

Mehr zu arbeiten, ist kein Fortschritt, wenn die Technologie längst andere Wege eröffnet. Wir brauchen eine Vision, die die Effizienzgewinne aus KI gesellschaftlich nutzbar macht; sei es durch Arbeitszeitverkürzung, neue Teilhabeformen oder ein modernes Sicherungssystem.

Und ja es bedarf wirklich sehr viel Mut, den Gedanken zu Enden zu denken.

WIRTSCHAFT ONLINE: Wie kann die Welt von morgen mit KI bestenfalls aussehen? Welche Chancen birgt diese?

Robert Hentschel: Im besten Fall nutzen wir KI nicht nur, um schneller oder effizienter zu werden, sondern um als Gesellschaft menschlicher zu werden. Das klingt erstmal gegenteilig. Doch, wenn wir es richtig machen, kann KI die Grundlage sein für ein neues Fortschrittsversprechen. Eines, das nicht auf mehr Arbeit, sondern auf mehr Lebensqualität zielt. Wir könnten Arbeitszeit massiv verkürzen, möglichst ohne Wohlstandsverlust.

Es kann aber auch in die andere Richtung gehen. Wenn wir so weitermachen wie bisher, wird die KI-Welt von morgen nicht gerecht, sondern kontrolliert: Eine kleine globale Elite besitzt die Systeme, das Wissen und die Infrastruktur. Der Rest der Menschheit wird verwaltet, überwacht oder schlicht ersetzt.

Arbeitsmärkte kollabieren, weil Menschen gegen Maschinen verlieren. Wer nicht mithalten kann, verliert Teilhabe, Einkommen, Würde. Wir schaffen eine neue Klassengesellschaft – nicht entlang von Herkunft oder Geld, sondern entlang von Zugang zu Technologie.

Statt einer besseren Welt erleben wir eine hocheffiziente, entmenschlichte Gesellschaft, in der KI nicht befreit, sondern diszipliniert. Nicht verbindet, sondern trennt. Und wer einmal aus dem System fällt, kommt nie wieder hinein.

WIRTSCHAFT ONLINE: Und wo sehen Sie Schwachstellen in unserem Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, die bei weiterem Fortgang der Transformation gegen die sprichwörtliche Wand führen können?

Robert Hentschel: Eine zentrale Schwachstelle liegt in der Trägheit unserer Institutionen – politisch, wirtschaftlich, gesellschaftlich. Wir haben ein System, das auf Stabilität und Kontrolle ausgelegt ist, nicht auf tiefgreifende Transformation. Doch genau die verlangt der technologische Wandel.

Wir behandeln KI noch zu oft wie eine Fachfrage für IT-Abteilungen. Dabei stellt sie unser gesamtes Gesellschaftsmodell infrage: Wer erzeugt Wert? Wer verteilt ihn? Und was ist überhaupt noch Arbeit im klassischen Sinn?

Die größte Schwachstelle im System ist der Mensch, genauer gesagt: unser Denken. Wir klammern uns an alte Gewissheiten, obwohl sich die Welt fundamental verändert. Wir hoffen, dass es irgendwie weitergeht, wie es war, obwohl die Zeichen unübersehbar sind, dass das nicht funktionieren wird. Die Technologien wachsen exponentiell aber wir reagieren darauf linear, zögerlich, reaktiv. Wir fürchten Kontrollverlust, aber halten gleichzeitig an Systemen fest, die längst dysfunktional sind.

WIRTSCHAFT ONLINE: Daraus resultieren Verantwortlichkeiten. Wer muss diese übernehmen?

Robert Hentschel: Verantwortung tragen viele, im Grunde wir alle. Aber nicht alle haben die gleichen Möglichkeiten, sie auch wirklich umzusetzen. Die Hauptverantwortung liegt – ganz realistisch betrachtet – bei der Politik. Sie hat die Macht, Rahmenbedingungen zu setzen, Leitplanken zu schaffen, Innovation zu fördern und soziale Absicherung neu zu denken. Aber ganz offen gesagt: Ich wünsche mir nicht, dass die Politik allein diese Steuerungsfunktion übernimmt. Zu oft ist sie getrieben von kurzfristigen Interessen, Wahlzyklen, parteipolitischen Taktiken und viel zu selten wirklich visionär.

Die wirklich steuernden Kräfte sollten in der Wirtschaft und in der Gesellschaft liegen, heruntergebrochen auf jeden einzelnen Menschen als Individuum.

WIRTSCHAFT ONLINE: Der Systemwandel wird direkten Einfluss auf die regionale Wirtschaft haben. Welchen? Sind wir überhaupt bereit für diesen Wandel?

Robert Hentschel: Der Systemwandel durch KI wird tief in die regionale Wirtschaft eingreifen. Wir werden einen Umbruch erleben, bei dem Wirtschaftszweige und Branchen schwinden und neue, technologiegetriebene Sektoren entstehen. Kleine und mittelständische Unternehmen müssen sich noch viel schneller digitalisieren, um mit den globalen Marktführern mithalten zu können. Doch der Wandel wird nicht nur technologische Innovationen bringen. Er wird auch zu einer Umverteilung von Arbeitsplätzen führen, die vor allem die Regionen treffen wird, die sich bisher auf traditionelle Arbeitsmodelle verlassen haben.

WIRTSCHAFT ONLINE: Danke, Herr Hentschel, für Ihre Zeit und Ihre klärenden Worte. Sie geben uns zu denken.

Ihre Kontaktperson

Bei Fragen hilft Ihnen Robert Hentschel gerne weiter.

T: +49 341 1267-1409
M: +49 173 5877740
F: +49 341 1267-1420
E: robert.hentschel@leipzig.ihk.de

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