
Der Energiehunger neuer Technologien, KI und ihre Anwendungen für KMU
16. Januar 2025Viele Aspekte zur Entwicklung und zu Anwendungen von Künstlicher Intelligenz (KI) finden sich nicht im öffentlichen Diskurs wieder. Dabei suchen gerade KMU (Kleine und mittlere Unternehmen) noch nach ihrem eigenen Umgang mit dieser Technologie. Wir sprachen mit der Computerlinguistin Xenia Klinge und fragten nach. Wir thematisierten den Energiehunger neuer Technologien sowie kreative Lösungsansätze, aus diesem Dilemma herauszukommen, den sich abzeichnenden dritten KI-Winter, den Stand der KI-Forschung in der Bundesrepublik Deutschland, Chancen verschiedener Branchen beim Einsatz von KI und eine konkretere Begriffsbestimmung.
WIRTSCHAFT ONLINE: Guten Tag, Xenia Klinge. Sie arbeiten am DFKI (Deutsches Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz) als, wenn ich richtig informiert bin, Computerlinguistin. Was macht denn eine Computerlinguistin?
Xenia Klinge: In der Computerlinguistik geht es darum, Sprache und Technologie zu kombinieren. Ich bin sowohl Sprachwissenschaftlerin als auch Informatikerin. In Zeiten von Suchmaschinen, Sprachassistenten und ChatGPT machen wir uns kaum noch Gedanken darüber – aber dass der Computer uns in unserer eigenen Sprache „versteht“, ist nicht selbstverständlich, und für viele Sprachen neben dem Englischen auch noch nicht Realität. Die großen Schritte, die KI in den letzten vier bis sechs Jahren in der Sprachverarbeitung, Natural Language Processing, gemacht hat, sind ein Kernthema der Computerlinguistik. Und die wiederum überschneidet sich mit der Künstlichen Intelligenz.
WIRTSCHAFT ONLINE: Ich durfte Ihrem Vortrag auf der ELSTERCON24 lauschen, bei dem Sie darüber geredet haben, ob uns ein dritter „KI-Winter“ bevorsteht. Dies impliziert, dass es schon zwei KI-Winter gab. Wann denn und was führte dazu?
Xenia Klinge: Seit den Anfängen in den 1950ern hat KI abwechselnd Phasen großer Begeisterung und großer Enttäuschung erlebt. Das Thema Künstliche Intelligenz und das, was mit ihr verbunden wird, hat eine Strahlkraft, die von technologischen Durchbrüchen stark beflügelt werden kann und hohe Erwartungen schafft. Man spricht von einem KI-Winter, wenn diese Hoffnungen sich nicht erfüllen und die Enttäuschung über die Grenzen der Technologie zu einem Verlust an Interesse führt – oft messbar in den investierten Mitteln für KI-Forschung oder -Projekte.
Bisher gab es zwei Phasen, die KI-Winter genannt werden: Die erste begann in den frühen 1970er-Jahren, als nach einigen Jahren des Enthusiasmus immer klarer wurde, dass Systeme wie zum Beispiel ein viel erhofftes Universalübersetzungsprogramm mit den zur Verfügung stehenden Mitteln nicht erreichbar waren, was zu reduzierten Fördergeldern von Organisationen wie etwa der DARPA führte. Der zweite KI-Winter begann in den späten 1980er-Jahren, als sich zeigte, dass die damals sehr erfolgreichen Expertensysteme sich nur bedingt auf andere oder größere Probleme anwenden ließen als die, für die sie explizit geschaffen wurden. Dennoch haben weder Forschung noch Industrie je völlig aufgehört, sich mit dem Thema zu beschäftigen.
WIRTSCHAFT ONLINE: Und derzeit? Was bringt Sie dazu, über einen dritten KI-Winter nachzudenken?
Xenia Klinge: Aktuell befinden wir uns in einer Hochphase für KI. Die zunehmende Digitalisierung und Vernetzung der Welt hat dazu geführt, dass ein Teilbereich der KI, das Deep Learning, massive Erfolge erzielen konnte in Bereichen, die Computern traditionell schwerfallen – darunter etwa Bilderkennung, Go-Spielen oder eben Sprachverstehen. Noch ist nicht völlig absehbar, wo die Grenzen liegen, und die Erwartungen und Hoffnungen sind hoch. Aber es gibt auch viel Unsicherheit angesichts dieser von vielen als schnell und unerwartet empfundenen Entwicklung. Werden die Erwartungen erfüllt oder enttäuscht werden? Erreichen wir erneut die Grenzen und wenn ja, was tun wir dann?
WIRTSCHAFT ONLINE: Im Vortrag sagten Sie ebenfalls, dass der Begriff KI für die Anwendungen, mit denen wir es derzeit zu tun haben, irreführend ist. Wieso?
Xenia Klinge: Der Begriff ist sehr aufgeladen, hat eine lange Geschichte, unzählige Teilbereiche und findet vielseitige Interpretation in Kunst und Literatur. Es ist schwierig, zwei Personen zu finden, die genau dasselbe meinen, wenn sie über „Künstliche Intelligenz“ sprechen – da schon allein „Intelligenz“ meist nicht eindeutig definiert ist. In ihrer grundlegendsten Definition bezeichnet KI jedes System, das in der Lage ist, automatisch intelligente Verhaltensweisen zu zeigen, die zum Beispiel denen der Menschen ähneln. Darunter kann alles Mögliche fallen: ein Schachspiel gewinnen, die schnellste Route von A nach B berechnen, die Adresse auf einem Brief lesen und ihn ins richtige Fach einsortieren, einen Aufsatz über Freiheit schreiben oder die dreidimensionale Struktur eines Proteins anhand seiner Sequenz vorhersagen.
Vieles davon kann Technologie seit Jahren, teils besser als wir, und ist so in unseren Alltag übergegangen, dass wir es nicht mehr KI nennen wollen – denn „wirkliche Intelligenz“ kann ja kaum so simpel sein, oder? Auch um dieser Erwartungsfalle zu entgehen, ziehen es manche vor, konkretere Bezeichnungen zu wählen wie Maschinelles Lernen, Neuronale Netze oder GPT, die sich eindeutiger definieren lassen und mit weniger kulturhistorischem Ballast kommen.
WIRTSCHAFT ONLINE: Was können heutige Wirtschaftstreibende nun tun, um an der Entwicklung teilzuhaben? Gerade in unserer Region sind dies hauptsächlich KMU … haben also in der Regel keine riesigen, eigenen Forschungsabteilungen …
Xenia Klinge: Zunächst einmal: Ruhe bewahren. Für KMU ist es nicht so wichtig, die technologische Entwicklung in ihrer Gesamtheit im Blick zu behalten, um ja nichts zu verpassen. Stattdessen würde ich empfehlen, zu verfolgen, was andere tun, und Bereiche ausfindig zu machen, in denen das Unternehmen von KI profitieren kann. Beginnen Sie damit, sich selbst die Frage zu stellen: Haben Sie spezifische Probleme, die mithilfe von KI gelöst werden könnten? Gibt es Aufgaben, die viel Zeit oder Ressourcen in Anspruch nehmen? Die vielleicht repetitiv sind, auf Erfahrung beruhen oder viel Aufmerksamkeit benötigen? Das könnten Kandidaten für Automatisierung sein. Beispielweise können Computer-Vision-Systeme im Bereich Qualitätskontrolle eingesetzt werden oder Chatbots das Kundendienstangebot verbessern.
Es ist auch wichtig zu erkennen, dass es bei diesem Prozess nicht nur um die Technologie geht; es geht darum, Ihre Bedürfnisse besser zu verstehen und die beste Lösung für Ihr Problem zu finden. Das muss nicht immer ein komplexes Neuronales Netz mit Millionen von Parametern sein, manchmal genügt eine für Menschen gut verständliche und nachvollziehbare Heuristik. Durch den Einsatz von Datenanalyse und statistischen Verfahren können Sie im Idealfall wertvolle Erkenntnisse über Ihren Betrieb gewinnen. Dieses Wissen dient Ihnen am besten, wenn Sie es selbst entwickeln, aber mit einem konkreten Ziel vor Augen sind auch Kooperationsprojekte mit zum Beispiel wissenschaftlichen Instituten eine gute Möglichkeit, einzelne Probleme anzugehen. Nicht zuletzt gibt es zahlreiche Förderangebote, die Innovation in KMU unterstützen und genau solche Projekte ermöglichen können.
WIRTSCHAFT ONLINE: In den USA wird derzeit über den Energieverbrauch durch KI-Rechenzentren diskutiert. Große KI-Player beantragen derzeit ganze Atomkraftwerke für sich selbst. Dieses Segment der Diskussion findet hierzulande kaum statt, der Energiehunger der neuen Technologien … Aber in der wissenschaftlichen Diskussion: Wie ist denn hier der Lösungsansatz?
Xenia Klinge: Das ist ein sehr wichtiger Aspekt, der nur noch mehr an Bedeutung gewinnt, da die Komplexität und der Umfang der KI-Anwendungen zunehmen. Es gibt mehrere Ansätze, um den Energieverbrauch zu reduzieren, zum Beispiel die Entwicklung von energieeffizienten Prozessoren, die speziell für KI-Anwendungen entwickelt werden, oder die Verwendung von Speicher-Technologien, die weniger Energie verbrauchen. Softwareseitig wird an Algorithmen gearbeitet, die weniger rechenintensiv sind, oder Techniken wie Quantisierung von großen Neuronalen Netzen verwendet, um die Rechengeschwindigkeit zu erhöhen, während der Energieverbrauch reduziert wird. Eine weitere Möglichkeit ist die Verwendung von erneuerbaren Energien, um die Rechenzentren zu betreiben. Hierzu gehört zum Beispiel die Verwendung von Solar- oder Windenergie, um die Rechenzentren zu betreiben.
Aber auch die Frage, ob wir wirklich so viel Rechenleistung benötigen, um unsere Probleme zu lösen, wird gestellt. Könnten wir nicht mit weniger auskommen? Müssen wir all diese Energie in Technologie stecken, die einen unendlichen Vorrat an künstlichen Katzenbildern liefert oder vorschlägt, was wir zum nächsten Geburtstag verschenken sollen? Wenn wir ein System entwickeln, versuchen wir, seinen Nutzen mit den Kosten für seinen Betrieb abzuwägen. Auch das kann ein Grund sein, warum ein einfaches System manchmal einem komplexen vorzuziehen ist. Und wir nutzen Designmethoden, die eine ressourcensparende Nutzung erleichtern und zugleich ein Verständnis für die Funktionsweise schaffen.
WIRTSCHAFT ONLINE: In welchen Branchen führt demnächst kein Weg mehr an der Technologie vorbei?
Xenia Klinge: Methoden der KI sind heute bereits in vielen Branchen etabliert und das wird sich eher noch fortsetzen. Im Gesundheitswesen wird seit Jahren darüber gesprochen, was mit aggregierten Daten in puncto Diagnose, Früherkennung und auch Personalisierung erreichbar wäre. KI wird in der Finanzbranche eingesetzt, um Risiken zu identifizieren, Betrug zu erkennen und die Kundenbetreuung zu verbessern. In der Fertigung und Produktion verbessert sie alle Schritte von Anfertigung über Qualitätskontrolle bis zur Lieferkettenoptimierung.
Viel wichtiger als der Blick auf einzelne Branchen ist aber der Blick auf unseren Alltag und unsere Gesellschaft. Wir alle sind heute und werden in Zukunft mit Künstlicher Intelligenz zu tun haben – wir werden zu ihren Eingabedaten und ihre Ausgabedaten werden zu einem Teil unseres Lebens. Es ist wichtig, sich diesen Prozess bewusst zu machen und ihn reflektieren zu können. Die gute Nachricht ist: Je mehr Erfahrung wir mit der Technologie machen, desto souveräner werden wir in ihrem Umgang.
WIRTSCHAFT ONLINE: Große Player und Anbieter befinden sich derzeit hauptsächlich in China und den USA, was ja auch wieder für Abhängigkeiten sorgt. Auch bei den Rohstoffen, die gebraucht werden, um die Rechenzentren etc. zu bauen, sind geografisch sehr konzentriert. Hat Europa, besser gefragt Deutschland, die Entwicklung schon verschlafen? Was muss aus Ihrer Sicht als Wissenschaftlerin und Expertin unbedingt getan werden?
Xenia Klinge: Um die europäische KI-Entwicklung zu fördern, braucht es mehrere Ebenen. Einerseits benötigen wir mehr Investitionen in die Forschung und Entwicklung von konkreten Lösungen. Andererseits müssen wir die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft, Wirtschaft, Gesellschaft und Politik stärken, um die Bedürfnisse und Anforderungen der verschiedenen Interessengruppen besser zu verstehen und zu berücksichtigen. Außerdem müssen wir uns um die Ausbildung und das Training qualifizierter Fachkräfte kümmern, um den Bedarf an KI-Expertise zu decken.
Ein wichtiger Aspekt ist auch die Förderung von ethischen und verantwortungsvollen KI-Praktiken. Europa hat die Chance, hier ein Vorbild zu sein und zu zeigen, dass KI-Entwicklung und -Einsatz nicht nur effizient und innovativ, sondern auch verantwortungsvoll und menschenzentriert sein kann. Wir müssen soziale und politische Aspekte berücksichtigen, um sicherzustellen, dass die KI-Entwicklung von Vorteil für alle Beteiligten ist – nicht allein dem Profit und dem Wachstum verschrieben.
Was Deutschland betrifft, gibt es viele Möglichkeiten, sich in Europa zu profilieren. Deutschland kann seine Stärken in der industriellen Produktion und der IT-Branche nutzen, um innovative KI-Lösungen zu entwickeln und zu implementieren. Zudem kann Deutschland seine Position als führende Forschungsnation nutzen, um neue KI-Technologien zu entwickeln und zu erforschen. Nicht zuletzt ist das DFKI das größte unabhängige Forschungszentrum für KI weltweit.
WIRTSCHAFT ONLINE: Danke, liebe Frau Klinge, für Ihre Zeit, Ihre Antworten und Ihr Engagement.
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