„Betriebliches Gesundheitsmanagement ist keine Modeerscheinung“

Warum wird Betriebliches Gesundheitsmanagement für Unternehmen immer wichtiger?

Sabine Freutsmiedl:
Die wirtschaftlichen Ziele eines Unternehmens lassen sich zunehmend nur mit Unterstützung des Betrieblichen Gesundheitsmanagements – kurz BGM – sicherstellen, jedenfalls dann, wenn über den kurzfristigen Tageserfolg hinaus gedacht wird. Dafür gibt es verschiedene Ursachen. Allem voran: Die Ressource Mensch wird für die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen zu einem immer entscheidenderen Faktor, um den es andererseits im Kontext von Arbeitsverdichtung und anderen gestiegenen Anforderungen der modernen Arbeitswelt immer schlechter bestellt ist. Die Befunde der Experten und die Zahlen sind eindeutig: Viele Unternehmen in Deutschland gehen mit unserer wichtigsten Ressource, dem Human Kapital, noch sehr leichtfertig um. Angesichts der demografischen Entwicklung und des bereits spürbaren Fachkräftemangels, aber auch angesichts der Wettbewerbssituation deutscher Unternehmen im internationalen Wettbewerb, ist dies eine verhängnisvolle Entwicklung. Denn die Leistungsfähigkeit von Mitarbeitern lässt sich weder zukaufen noch kurzfristig entwickeln. Dazu können professionelle Konzepte im Betrieblichen Gesundheitsmanagement beitragen. Professor Gerald Hüther, Neurobiologe an der Uni Göttingen, fasst es auf Grundlage seiner wissenschaftlichen Arbeit, in folgende Vision: Unternehmen sollten zu Orten werden, an denen Menschen neue und begeisternde Erfahrungen machen können. Denn nur dann sind sie bereit und in der Lage, mehr als Durchschnittliches zu leisten – und damit eben genau das, was als wirtschaftliches Ziel in den Unternehmen tagtäglich eingefordert wird.

Welche Rolle spielen insbesondere Führungskräfte bei der Gesunderhaltung ihrer Belegschaft bzw. bei der Einführung eines Betrieblichen Gesundheitsmanagements?

Sabine Freutsmiedl:
Sie spielen die Schlüsselrolle. Zum einen deshalb, weil BGM eben nur dann funktioniert, wenn es als Aufgabe des Managements angesehen und zur Chefsache erklärt wird. Es geht darum, die eigene Unternehmenskultur auf Risikofaktoren hin zu überprüfen. Zu den Grundvoraussetzungen für Gesundheit und Leistungsfähigkeit gehört, dass Mitarbeiter in ihren Tätigkeiten einen Sinn sehen, Anordnungen verstehen, Aufgaben mit den eigenen Ressourcen handhaben können und so weiter. Das aber sollte die ureigenste Aufgabe von Führungskräften sein: Den Teammitgliedern durch gute Voraussetzungen ein leistungsförderndes Arbeiten zu ermöglichen. Führungskräften kommt dabei eine dreifache Funktion zu: Wahrnehmen des einzelnen Mitarbeiters in seiner möglichen Gefährdung, Entwicklung oder Stärkung von Teamvitalität und natürlich die Weiterentwicklung des eigenen, modernen Gesundheitsbewusstseins. In Seminaren wie „Gesundheitsorientiertes Führen“ wird Führungskräften das Rüstzeug dafür vermittelt. Dabei wird schnell deutlich, dass die Einbindung in das BGM für die Führungskräfte keine Mehrbelastung darstellt und es auch nicht um das gesundheitliche Bemuttern der Mitarbeiter geht. Vielmehr erhält die tägliche Führungskräfte-Arbeit durch die Dimension der Gesundheitsorientierung eine größere Wirksamkeit und Nachdrücklichkeit. Eigentlich wird der Alltag der Führungskräfte leichter, wenn sie das verstanden haben und umsetzen können. Immer natürlich unter der Prämisse, dass die Geschäftsleitung selbst über ein professionelles Verständnis von Betrieblichem Gesundheitsmanagement verfügt und ihrerseits die Führungskräfte gesundheitsorientiert zu führen versteht.

Worin sehen Sie die wesentlichen Hindernisse bei der Einführung eines Betrieblichen Gesundheitsmanagements im Unternehmen und wie können diese überwunden werden?

Sabine Freutsmiedl:
Die Verantwortlichen in den Unternehmen sind Menschen. Als solche gilt auch für sie: Das Aufgeben gewohnter Betrachtungs- und Denkgewohnheiten fällt unter dem Druck der Alltagsanforderungen schwer, und rationale Einsichten allein führen nicht automatisch zu Verhaltensänderungen. Hinzu kommen grundlegende Missverständnisse über Ziele und Zweck eines Betrieblichen Gesundheitsmanagements. Im Vordergrund steht fälschlicherweise immer noch die Auffassung, dass für seine Gesundheit doch jeder Mitarbeiter selbst verantwortlich sei. Viele Ansätze sind halbherzig und gehören eher in den Bereich der Betrieblichen Gesundheitsförderung: Firmenlauf, Sportangebote, mobile Massagen, Ernährungsangebote. Das tut sicher gut, ist aber nur ein Puzzleteil eines professionellen Betrieblichen Gesundheitsmanagements. Damit lassen sich nicht die gewünschten Effekte erzielen. Also wird geschlussfolgert, dass BGM nichts taugt. Unzulänglich war jedoch der eigene Ansatz.

Zu den Hemmnissen bei der Einführung eines Betrieblichen Gesundheitsmanagements gehört aber mit Sicherheit auch, dass das Unternehmen materielle, finanzielle und personelle Ressourcen bereitstellen, damit in Vorleistung gehen muss. Das setzt Wirtschaftskraft voraus. Es sind also die wirtschaftlich starken Unternehmen, die voran gehen und wissen, nur so ihre Position halten und ausbauen zu können. Aber auch diese machen die Erfahrung: Ergebnisse brauchen ihre Zeit und entziehen sich aufgrund komplexer Bedingungsgefüge einer einfachen Kosten-Nutzen-Rechnung.

Vielleicht wiederholen sich beim BGM Entwicklungen, wie wir sie schon bei der Einführung des Qualitätsmanagements – heute in der Regel eine Selbstverständlichkeit – vor 20 Jahren beobachten konnten. Betriebliches Gesundheitsmanagement ist keine Modeerscheinung. Die Rahmenbedingungen werden die Entscheider in den Unternehmen dazu bringen, sich mit professionellem BGM-Wissen auseinanderzusetzen. Dafür gibt es Online-Kurse, Tagesseminare, Ausbildungsgänge zum Gesundheitslotsen oder zum Betrieblichen Gesundheitsmanager und natürlich BGM-Fachtagungen. Gerade in der Region Leipzig gibt es zahlreiche Angebote zu Erfahrungsaustausch und Wissenserwerb. Dabei lassen sich auch schnell die BGM-Berater identifizieren, die aufgrund ihrer praktischen Erfahrungen unternehmensnahe, individuelle und praxisrelevante Lösungen anbieten, statt sich in abstrakten Theoriegebäuden zu verschanzen.

Was antworten Sie jemandem, der behauptet, Betriebliches Gesundheitsmanagement verursache nur Kosten, denen kein kurzfristiger Nutzen gegenüber steht?

Sabine Freutsmiedl:
Unternehmen, die BGM unterlassen, verlieren täglich sozusagen unmerklich viel Geld. Diese nicht wahrgenommenen Wertverluste lassen sich auf unterschiedliche Weise sichtbar machen. Dafür nur ein Beispiel: Unterstellt man, dass ein Ausfalltag das Unternehmen 250 Euro kostet, könnte ein Unternehmen mit 150 Mitarbeitern und einem fiktiven Krankenstand von 4,5 Prozent durch die Senkung der Arbeitsunfähigkeits-Tage um nur ein Prozent durch gezielte BGM-Maßnahmen 93.750 Euro an Ausfallkosten einsparen. Nach anderen Berechnungsmodellen wie der so genannten Stanford-Formel würden in diesem Unternehmen sogar 165.000 Euro an Kosten durch nicht erbrachte Leistungen anfallen. Der Return On Investment reicht bei BGM-Maßnahmen von 1:4 bis 1:10. Professionelle Management-Systeme wie die Balanced Scorecard können BGM-Maßnahmen zweifelsfrei evaluieren. Aber zu erwähnen ist natürlich auch der nicht-monetäre Nutzen. Als Stichworte seine genannt: attraktiver Arbeitgeber; Strahlkraft für Kunden; Voraussetzung, um als Zulieferer vom Auftraggeber akzeptiert zu werden; gesetzlich verankerte Fürsorgepflicht; Ethik.

Welche Maßnahmen des Betrieblichen Gesundheitsmanagements sind aus Ihrer Sicht leicht umsetzbar?

Sabine Freutsmiedl:
Am Anfang könnte eine mit externer Unterstützung geführte Beratung der Unternehmensleitung zu den wirtschaftlichen Zielen und dem dazu erforderlichen Beitrag des Betrieblichen Gesundheitsmanagements stehen. Das hilft, mit Missverständnissen aufzuräumen und zu erkennen, dass oft schon Vieles da ist, was es nun zu stärken gilt. Prinzipiell gibt es keine Standardlösungen. Die BGM DIN Spec 91020 gibt einen Rahmen vor, aus dem unternehmensspezifisch ausgewählt werden muss. Dazu kann auch die vom Gesetzgeber geforderte Gefährdungsbeurteilung zu psychischen Belastungen beitragen. Es muss also nicht das ganz große Rad gedreht werden. Und auch hier gibt es Hilfe zur Selbsthilfe. Die Ergebnisse sollten dann die Grundlage bilden, um Betroffene zu Beteiligten zu machen – also das Gespräch mit den Mitarbeitern zu suchen, statt eine gesundheitsfördernde Maßnahme anzuordnen. Das setzt freilich voraus, dass auch über aktuelle Formen wie beispielsweise Resilienztraining informiert wird. Nachgefragt wird nur, was bekannt ist. Und da schließt sich der Kreis: Ohne Wissens- und Erfahrungsaustausch werden Lösungen zu eindimensional gesucht. Erfolgreiches Betriebliches Gesundheitsmanagement ist weder schlicht noch Hexerei, sondern Ergebnis professioneller Zusammenarbeit zwischen unternehmensinternen Entscheidern und externen BGM-Akteuren mit dem Ziel, schrittweise die unternehmensinternen Kompetenzen auszubauen.

Vielen Dank für das Gespräch!


Dieser Beitrag ist die Ergänzung zu Ausgabe 6/2014, Seite 12/13 des IHK-Magazins "wirtschaft".

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